Die Hexe
Text: Helene Huss-Trethan
Es war einmal ein junges Mädchen. Sie war die Tochter eines armen Bauern. Bereits als kleines Kind musste es auf den Feldern arbeiten. Von Geburt an hatte es einen krummen Rücken. Aber das störte bei der Arbeit nicht, da musste sie sowieso immer gebückt den Boden bearbeiten.
Sie war auch nicht schön. Nase war zu lang, sie schielte, Haare dünn und struppig. Die Finger und Zehen wurden immer länger, das Kinn wurde spitz und lang.
Nur die Tiere waren ihre Freunde. Ein Rabe war ihr ständiger Begleiter.
Der Bauer wusste, dass er eine kluge und geschickte Tochter hatte. Sie konnte auch sehr gut kochen und backen. Sie musste das schon sehr früh lernen, da ihre Mutter bei der Geburt ihres kleinen Bruders starb. Der Bauer verdiente sich immer ein Zubrot mit den Lebkuchen, die das Mädchen buk.
Aber das Schulgeld konnte er sich nicht leisten und ihr einen Mann zu suchen, der ihren Verstand und Fertigkeiten zu schätzen wusste, war sinnlos. Ihr Äußeres hätte alle Bewerber abgestoßen.
Als das Mädchen älter wurde kamen die jungen Männer betrunken von der Kirchweih und vielen von hinten über sie her, schoben ihre Röcke hoch und vergewaltigten sie. Dann verlachten sie das weinende Mädchen und schlugen sie.
Der Bauer konnte seine Tochter nicht mehr schützen. Aber er hatte ein kleines Stück Wald. In dem baute er ein kleines Häuschen für seine Tochter in dem sie unbehelligt wohnen konnte.
Das Mädchen wurde zur Frau. Sie lernte die Früchte des Waldes schätzen und wurde mit ihrem Wissen über Kräuter und Pilze zu einer gefragten Heilerin. So manches junges Fräulein kam auch um sich von ihr einen Liebestrank brauen zu lassen und die Frauen besuchten sie um Kräuter gegen den unerfüllten Kinderwunsch zu bekommen, aber auch um ein unerwünschtes Kindlein nicht bekomme zu müssen. Alle, die sie kannten wussten sie zu schätzen und gaben das Wissen, wo sie zu finden war, nur an die weiter, die auch Hilfe brauchten. Es gab viele Gerüchte um die Frau im Wald, auch dass sie kleine Kinder fresse, aber das war natürlich Unsinn. Sie war für alle nur die Hexe.
Eines Tages verirrten sich zwei kleine Kinder im Wald. Es waren Hänsel und Gretel, die Kinder eines Holzfäller Ehepaares, das ihre Kinder nicht mehr wollte. Die Hexe hatte die Kleinen längst gehört beim Kräutersammeln. Sie war sicher, dass die beiden ihr kleines Häuschen finden würden. Dort würden die beiden genug zum Essen finden bis sie zurück kam um ihnen zu helfen. Schließlich hatte sie gerade Lebkuchen gebacken und zum Trockenen überall aufgelegt.
Als sie nach Hause kam, fand sie die Kinder schon schlafend vor dem noch warmen Backofen vor. Nun, für einige Zeit konnten die beiden schon bleiben. Die Hexe konnte etwas Gesellschaft und Hilfe brauchen. Behutsam deckte sie die Geschwister zu.
Am nächsten Tag wachten die Kleinen auf. Gretel machte sich gleich daran das Feuer im Ofen wieder an zu machen. Hänsel lief raus aus dem Häuschen und stürzte sich gleich auf den Lebkuchen um sich weiter voll zu stopfen. Die Hexe kam gerade mit frischem Wasser vom nahegelegenen Bach. Hänsel schrie auf, als er sie sah. Kreischend stürzte er ins Häuschen und versuchte die Schwester heraus zu zerren. Das Mädchen sah die Hexe, nickte ihr zu und versuchte ihren kleinen Bruder zu beruhigen. Der aber stürzte sich auf die Hexe und schlug auf sie ein. Natürlich war die Hexe stärker, aber es machte sie traurig, dass sie Hänsel in den Stall sperren musste, weil er immer weiter auf sie einschlug.
Mit Gretel machte sie Frühstück für die Kinder. Sie saß mit dem kleinen Mädchen am Tisch und hörte sich ihre Geschichte an. Sie hörten Hänsel weiter brüllen im Stall. Gretel brauchte dem Bruder das Essen und so bleib es die nächsten Tage.
Gretel lernt von der Hexe wie man mit Kräutern umgeht, lernte die Kraft der Pilze kennen und wurde eine Meisterin des Backofens. Immer wieder brachte sie ihrem Bruder das Essen. Natürlich verstand er bald, dass er mit Gebrüll nicht weiter kam. Jedes Mal wenn seine Schwester kam, redet er auf sie ein, dass sie die Hexe doch nicht mehr bräuchten, dass sie doch ganz gut alleine zu Recht kämen, dass die Hexe gefährlich sei, dass sie wohl etwas gegen Männer hätte und ihn, den Hänsel wohl eines Tages fressen würde.
Lange Zeit lachte die Schwester über das Geschwätz des Bruders, aber sie hörte es immer wieder und immer wieder. Eines Tage ließ sie ihren Bruder frei, sobald die Hexe weg war. Sie saßen gemeinsam in der Hütte. Der Bruder überlegte, wie sie wohl die Hexe los werden könnten. Sie vertreiben ging wohl nicht. Niemand kannte den Wald so genau wie die Hexe. Sie irgendwie zu töten und zu verscharren war zu gefährlich. Ihre Tiere würden sie wieder aus der Erde holen. Es musst eine Möglichkeit geben, wie man sie einfach verschwinden lassen könnten.
Die Hexe war müde. Der krumme Rücken schmerzte sehr. Die Aussicht auf das warme Bett und Gretels Fürsorge ließ sie rascheren Schrittes zu ihrem Häuschen kommen. Verwundert sah sie, dass Hänsel nicht im Stall war. Langsam betrat sie die Stube. Die Tür des Backofens schwang auf und mit einem kräftigen Stoß schoben sie die Geschwister hinein.
Tagelang versteckten sich die Kinder weiter in dem Häuschen. Aber Hänsel wurde es bald zu langweilig. Er naschte an den getrockneten Pilzen, wurde davon ganz schwindelig und torkelt verwirrt wieder ins Dorf. Dort erzählt er wirre Geschichten und tanzte nackt in der Kirche. Er wurde von allen verlacht und schließlich in den Narrenturm gesteckt.
Gretel blieb im Häuschen und machte einfach die Arbeit der Hexe weiter. Nur der Rabe der Hexe flog weg von ihr und kam nie wieder.
© Helene Huss-Trethan
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